Auszug aus der Serie „Mein Chor und ich“ (Lugert-Verlag) mit Genehmigung der Autorin


Das Schwarze sind die Noten: Musik lesen, wie geht das?

Vorweg: Wer ohne Noten singt, ist keineswegs ein schlechterer Sänger. Chorsänger, die bisher ohne Notenkenntnisse ausgekommen sind, verdienen Respekt, denn sie leisten eine Menge: Sie haben ein gutes Gehör und können durch Nachsingen aufgenommene Melodien so gut im Gedächtnis speichern, dass sie in der Lage sind, sie immer wieder abzurufen. So haben sie sich über die Jahre ein riesiges Repertoire angeeignet. Doch mit jeder Chorprobe muss mehr auswendig gelernt werden – was tun, wenn da einmal das Gedächtnis streikt? Sängerinnen und Sänger, die das Notenblatt, das sie in den Händen halten, auch wirklich lesen können, haben in vielerlei Hinsicht ein leichteres Leben (und einen glücklicheren Chorleiter). Das fängt damit an, dass sie nicht mehr fürchten müssen, allein im dunklen Wald zu stehen, sollten sie im Schwung der Musik einmal den Faden verlieren ...

Einer, der am besten weiß, warum das „Singen nach Noten“ das Chorleben einfacher, erfolgreicher und schöner macht, ist Karl Heinz Schmitt. In den vergangenen 30 Jahren hat der Chorleiter aus Aschaffenburg unzählige Chöre in die Geheimnisse der klingenden Notenschrift eingeweiht. Und er weiß vor allem, wie das geht. Nämlich viel leichter, als die meisten glauben: „Notenlesen lernen ist wirklich spielend leicht, nur halten das viele nicht für möglich“, sagt Schmitt. „Sie merken erst, wie einfach es ist, wenn sie es am eigenen Leib erfahren.“ Und wie bei den meisten Dingen, vor denen man ein gewisses Unbehagen verspürt, vergeht oft eine lange Zeit, bis es dazu kommt. Für viele, die das Notenlesen nicht mit der Muttermilch aufgesogen haben, hat es die Aura von etwas Kompliziertem, schwer zu Durchschauendem, von dem man besser die Finger lassen sollte. „Manche, die schon ihr halbes Leben in einem Chor gesungen haben, ohne Noten lesen zu können, verkünden scheinbar selbstbewusst, es habe ja 30 Jahre lang gut geklappt, warum sollten sie sich jetzt noch die Mühe machen“, erzählt Karl Heinz Schmitt. „Doch dahinter steckt eigentlich: Ich traue es mir gar nicht mehr zu.“ 


„Fast jeder besitzt ein musikalisches Naturtalent“

Hier versucht Schmitt, besonders den etwas älteren Choristen Mut zu machen. Oft seien die Hemmungen größer als die tatsächliche Schwierigkeit, die Aufgabe zu meistern, hat man sie erst einmal angepackt: „Viele Ältere kommen mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit voran. Nur weil man es nicht schon als Kind gelernt hat, ist der Zug noch längst nicht abgefahren. Einen Ton in seiner Notation, seiner Bezeichnung und seinem Klang zusammen zu bringen ist für das menschliche Gehirn keine besonders schwere Aufgabe. Der Mensch nimmt das auf!“ Möglich sei das durch ein gewisses musikalisches Naturtalent, das fast jeder Mensch besitze. „Beim Singen nach Noten geht es im Grunde darum, den Sängerinnen und Sängern dieses Talent bewusst und erfahrbar zu machen“, erklärt Karl Heinz Schmitt. Es wird geübt, das mit dem Auge erkannte Notenzeichen mit einer Vorstellung von Tonhöhe und Dauer zu verbinden. Durch unsere natürliche Gabe sind wir in der Lage, einen Ton mit unserer Stimme ungefähr zu treffen, wenn wir das dazugehörige Notenzeichen sehen. Das gelingt in kurzer Zeit sehr gut.“ In seinen Kursen erlebt Schmitt immer wieder, wie schnell durch eigene positive Erfahrungen mit der bisher unbekannten „Geheimschrift“ und den mit ihr verbundenen Klängen alte Hemmungen verschwinden können. „Schon nach den ersten Minuten spüren diejenigen Teilnehmer in meinen Kursen, die sich darauf einlassen und aktiv mitmachen, den ersten Erfolg. Wenn sie die ersten Töne vorgestellt bekommen und dann feststellen, dass sie in der Lage sind, die ganz einfach so ,wegzusingen’, kommt Zuversicht auf und Leistungsdruck entsteht erst gar nicht. An die Stelle der alten Angst tritt die neue, positive Erfahrung: Ich kann es ja doch!“    


Schluss mit der „Papageienmethode“!

Karl Heinz Schmitt möchte vor allem die Chorleiter ermutigen, mit ihrem Chor das Singen nach Noten zu trainieren. „Die Angst, dass der Chor Widerstand leistet und das Ziel womöglich nicht erreicht, ist sehr verbreitet“, berichtet er. Viele sprechen das Thema lieber gar nicht erst an und proben weiter wie gehabt mit der „Papageienmethode“, wie das Vorsingen – Nachsingen von bösen Zungen gerne genannt wird. Das erste Kennenlernen eines Chorwerks ohne Notenkenntnisse ist aber für Chöre und ihre Leiter eine mühselige Angelegenheit. „Die Arbeit mit einem Chor, der zumindest Grundkenntnisse im Notenlesen und Vom-Blatt-Singen hat, macht einfach viel mehr Freude“, weiß Schmitt nicht zuletzt aus den Berichten von Chorleitern, die es angepackt haben, aus ihren Choristen „wissende Sänger“ zu machen.

Und wie verändert sich ein Chor, wenn seine Mitglieder plötzlich vom Blatt singen können? „Es ist unglaublich, was da passiert. Natürlich heißt es nicht, dass sie alle Melodien gleich beim ersten Durchgang absingen, sondern der Notentext wird weiter Abschnitt für Abschnitt mit dem Klavier erarbeitet. Aber die Aufmerksamkeit für das Notenbild verändert sich grundlegend.“ Die Melodien, die der Chorleiter auf dem Klavier spielt, werden nun in den Noten mitgelesen und verstanden und können so viel schneller selbstständig mit einer klanglichen Vorstellung verbunden und gesungen werden. So geht das Einstudieren neuer Chorsätze viel flotter und macht aufgrund der Erfolgserlebnisse mehr Spaß. 


Ein „wissender“ Chor klingt besser

Singen nach Noten fördert auch das musikalische Verständnis: Durch die Grundlagen der Musiklehre, die man bei der Beschäftigung mit Noten, Vorzeichen und Tonleitern gewissermaßen nebenbei erwirbt, durchschauen die Sänger musikalisch, was sie singen. Sie werden sicherer in der Intonation und schulen außerdem das Gehör sowie ihre klangliche Vorstellungskraft. „Wissend und dadurch mit mehr Selbstvertrauen zu singen hebt automatisch die Qualität“, weiß Karl Heinz Schmitt. „Sänger, die sich sicher im Notentext bewegen, sind flexibler, werden empfänglicher für die musikalische Gestaltung und können besser aufeinander hören.“ Nicht zuletzt weil sie nun im Stande sind, mitzulesen, was die anderen Stimmen singen. Durch die intensive, kundige Mitarbeit der Sänger verbessert sich der Chorklang und alle haben viel mehr Freude am gemeinsamen Singen – kurz: Singen nach Noten lässt Chorleiterträume in Erfüllung gehen!

Auch musikalisch weniger ambitionierten „Hobby-Chören“ empfiehlt Chorpädagoge Schmitt, sich mit dem Singen nach Noten zu beschäftigen:  „Zum Notenlesen gehört weder hohe Ambition noch hohes Talent, sondern nur die Bereitschaft, es sich beibringen zu lassen.“ Nicht zuletzt bringt ein solcher Schritt nicht nur neuen Schwung in die Proben, sondern erhöht auch die Attraktivität des Chores: „So macht das Singen auch denen Freude, die sich nicht wochenlang mit einem Stück beschäftigen wollen, das sie sich auch in kürzester Zeit aneignen könnten.“



Hals über Kopf: Rein ins Abenteuer Notenlesen

Wie nimmt man nun am besten das Notenlernen in Angriff? Motivierte Sängerinnen und Sängern mit einem gewissen Maß an Selbstdisziplin können sich mit einem Buch zum Selbststudium an die Arbeit machen. Ein Tasteninstrument erleichtert die Sache erheblich,  ein preiswertiges Keyboard reicht aus. Für den Anfang kann man sich mit einem „Virtual Piano“ im Internet behelfen. „Schöner ist es in der Gruppe, man motiviert sich gegenseitig“, empfiehlt Schmitt. In seinem Arbeitsheft „Singen nach Noten“ (Verlag Schott), das auf der Musiklehre von Walter Kolneder basiert, hat Karl Heinz Schmitt das Pensum in kleinste, aufeinander folgende Schritte eingeteilt, die immer direkt anhand von praktischen Singübungen erarbeitet werden. So kann das „Singen nach Noten“ ganz einfach in die wöchentliche Chorprobe integriert werden, jede Woche fünf Minuten mit zwei bis drei Übungen seien schon ausreichend. Denn, so ist sich Schmitt sicher, „Freude haben die Sänger dabei schon an kleinen Dingen. So können sie zum Beispiel anhand des Grundschlags, der Viertelnote, sehr schnell aus eigenem Vermögen auszählen, wie lange eine ganze Note ausgehalten werden muss und sind dabei nicht mehr auf den Chorleiter angewiesen. Der Erfolg ist sofort da und das macht Lust auf mehr beim nächsten Mal.“ Sein wichtigster Tipp an die Chorleiter ist dabei, nicht viel zu reden oder zu erklären. „Vorträge über Musiktheorie verwirren nur. Nach einer kurzen Erläuterung sollten sie gleich die jeweiligen Töne und Zeichen vorstellen und sie mit dem Chor singend umsetzen.“

Los geht es ohne Vorzeichen. Bei der „Methode Schmitt“ werden zunächst der Violinschlüssel sowie wenige Töne und ihre Zeichen (Notenkopf und Notenhals) mit ihren Namen eingeführt (erst g und a, später e und c).  Sodann kommen die Notenwerte Viertel, halbe und ganze Note im 2/4- und 4/4-Takt hinzu. Sehr gut arbeiten lässt es sich mit Kinderliedern, da hier bei fast allen Sängerinnen und Sängern die Vorerfahrung abgerufen werden kann. „Sehr bald kommt der Übergang zu den Tonstufen 1 bis 7, so dass von jedem beliebigen Ton aus eine Tonleiter mit Dreiklängen und Kadenz vorstellbar wird. Auch eine Melodievorstellung entwickelt sich schnell,“ ist sich Schmitt sicher.

Zu trocken, zu schwer verständlich? Da hilft nur eins: selber machen. Also rein ins Abenteuer „Noten“, am besten Hals über Kopf! 

Die Autorin Eva Krautter leitete lange Zeit die Redaktion der Zeitschrift „Chorzeit“ des Deutschen Chorverbands in Berlin. Sie arbeitet heute als Musikjournalistin, freie Redakteurin und PR-Beraterin in Frankfurt am Main.


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